Während des WWF Jugend Schreibwettbewerbs zum Thema „Hoffnung“ haben wir viele Kurzgeschichten erhalten, die uns berühren, Mut machen und zum Nachdenken anregen. In der Interviewreihe „Hoffnung schreibt Geschichte“ möchten wir euch die Autor:innen und ihre Geschichten vorstellen.
Heute geht es um Salmoé: Sie ist 27 Jahre alt und in ihrer Kurzgeschichte „Jetzt“ erzählt sie von der blinden Louise, die nach einem Leben des Sammelns und Bewahrens seltener Pflanzensamen in einer pestizidfreien Zukunft den lang ersehnten Moment erlebt, diese wieder in die Welt hinauszusenden und neues Leben zu säen.
Interview mit Salomé
Magst du dich zum Einstieg einmal kurz vorstellen? Wer bist du, was begeistert dich und hast du ein Lieblingsbuch?

Ich bin Salomé Perret und bin 27 Jahre alt. Ich vergrabe gerne meine Hände in der Erde, bleibe oft stehen, um zuzuschauen, wie eine Wildbiene sich im Staub einer Blüte badet und singe vor mich hin, wenn ich alleine zu Hause bin. Studiert habe ich französische Literatur und nachhaltige Entwicklung und nun arbeite ich in einer Organisation für regenerative Landwirtschaft. Schriftstellerin wollte ich schon werden, als ich ein kleines Kind war. Schreiben war für mich immer ein Weg, um das Träumen nicht zu verlernen und ich bin mir sicher, träumen ist momentan wichtiger denn je.
Lieblingsbücher habe ich viele. In diesem Kontext vielleicht die zwei Folgenden:
“Der Gesang der Flusskrebse” von Delia Owens ist für alle, die einer wundervoll zarten Geschichte über das erwachsen werden lauschen wollen, bei der die schüchterne Schönheit und Stärke der Natur sich im Wesen der Hauptperson spiegelt. Und denen, die lieber Sachbücher mögen, empfehle ich “Geflochtenes Süssgras” von Robin Wall Kimmerer, ein Buch das mich meine Beziehung zu den Lebewesen in meiner Umgebung neu hat sehen lassen.
Inwiefern verkörpern die Samen für dich „Zukunft“ und „Neuanfang“?
Ich liebe es, zu gärtnern. Und es ist ein wunderschönes Gefühl, zuzusehen wie aus einem unscheinbaren Samen nur durch Wasser und Wärme ein winziges Pflänzchen entsteht. So sehr ich aber auch das Gärtnern liebe, so sehr schaue ich Saison für Saison zu, wie viele meiner Schützlinge den Schnecken zum Opfer fallen oder aus unerfindlichen Gründen wieder eingehen.
Das ist für mich sehr gut auf das Leben übertragbar. Es ist so wichtig, dass wir genug an die Zukunft glauben, um wieder und wieder auf neue Ideen und Lösungen zu setzen, daran glaubend, dass unter den richtigen Bedingungen etwas daraus wachsen kann. Nicht jede Idee wird in der Realität überleben, so wie auch nicht jede Pflanze erwachsen wird. Doch wenn wir es genug oft probieren, so gelingen manchmal auch die Versuche, von denen wir es am wenigsten erwartet hätten.
Was denkst du, hat Louise in dem Moment empfunden als sie die Samen losgelassen hat?
Louise hat so viele Jahre damit verbracht, auf den richtigen Moment zu warten. Endlich den Schritt zu wagen, die Chance zu ergreifen stelle ich mir als sehr intensives und auch sehr schönes Gefühl vor. Ich denke auch, dass eine gewisse Last von Louise’s Schultern fällt. Denn sie hat nicht nur die Samen losgelassen, sondern auch eine grosse Verantwortung. Jahrzehntelang hat sie sich eingesetzt und alles daran gegeben, dass die Voraussetzungen für diesen Moment stimmen. Nun hat sie ihre Samen dem Wind übergeben und es ist an der Natur, den Rest zu machen. Dieses Gefühl des Vertrauens in eine Kraft, die wir nicht kontrollieren können, kann beängstigend sein. Aber die Natur beweist uns immer wieder, wie viel sie selbst übernehmen kann, wenn wir ihr die richtigen Bedingungen schaffen.
Welche Rolle spielt Hoffnung, wenn es um den Schutz von Natur und Artenvielfalt geht?
Wie Menschen die Welt sehen, beeinflusst auch, wie sie sich in ihr bewegen.
Wenn man glaubt, man hat bereits verloren, warum sollte man es dann noch probieren. Dabei gibt es so viele wunderschöne Geschichten darüber, was man alles bewirken kann, wenn man etwas tut.
Hier sehe ich auch eine wichtige Rolle im Journalismus und in der Medienwelt: ich wünsche mir manchmal, dass mehr erfolgreiche Beispiele gezeigt werden, von Menschen die sich einsetzen und damit etwas bewegen können. Ich bin zum Beispiel immer wieder beeindruckt, wenn ich Berichte darüber sehe, wie Menschen tote Erde wiederbeleben, wie in Wüstenregionen Gärten und Ökosysteme entstehen. Das gibt mir jedes Mal Hoffnung. Wenn wir das mit Wüstensand schaffen, so glaube ich auch, dass wir unsere Wälder, Wiesen und Wasser wieder zu Lebensräumen für Mensch und Tier machen können.
Was bedeutet Hoffnung für dich persönlich?
Hoffnung heisst für mich, den Blick nicht darauf zu richten, was bereits verloren ist, sondern darauf, was wir verändern können. Und es gibt so viel Wunderbares in dieser Welt, das ich nicht bereit bin, aufzugeben. Das treibt mich an.
Was möchtest du den Menschen, die deine Geschichte gleich lesen werden noch sagen?
Danke, dass ihr hier seid. Lest unbedingt auch die anderen tollen Geschichten, die im Rahmen dieses Schreibwettbewerbs entstanden sind. Und lasst euch inspirieren davon, dass all diese Leute auf irgendeine Art und Weise daran glauben, dass wir das gemeinsam schaffen werden.
Salomés Kurzgeschichte: Jetzt
Jetzt Louise glaubte nicht an Dunkelheit. Seit ihrer Geburt waren ihre Augen nicht fähig, Licht wahrzunehmen. Und wenn es kein Licht gab, warum an Dunkelheit glauben? Aufrecht sass sie auf der Holzbank auf der Spitze des Hügels und fühlte, wie der Nachtwind ihr sachte durch das graue Haar strich. Leise lauschte sie, wie das Gras sich an die Bewegungen der Luft schmiegte und ab und zu hörte man den Ruf eines Tieres aus der Ferne.

Louise liebte die Nacht. Dann wenn die Erde sich drehte, wenn alle auf die gleichen Sinne angewiesen waren wie sie. In der Nacht schien alles viel näher. Lebendiger. Als stünde die ganze Welt direkt neben einem.
Wachsam wandte Louise ihr Gesicht der Richtung zu, wo sie die Ebene vermutete. Sie wusste, dass der Mond bald aufgehen würde. Doch sie hatte es nicht eilig. 87 Jahre hatte sie auf diesen Moment gewartet. Da kam es auf ein paar Stunden nicht mehr an. Vorsichtig gri sie in ihre Jackentasche. Kontrollierte erneut, ob sie noch da war, die Zukunft. Sie lächelte, als sie die feinen Körnchen ertastete. Einige hatten feine Härchen an der Oberfläche. Andere hatten kleine Flügelchen oder Schirmchen. Ein jedes trug den Anfang eines neuen Lebens in sich.
Die meisten davon hatte Louise selbst gesammelt. Früher hatte Rolf sie begleitet. Er mit seinen riesigen Brillengläsern und einer grossen Lupe, sie mit ihren neugierigen Fingern und der Gewissheit, dass sie ihre Schützlinge auch am Geruch erkennen würde. Sie hatte wegen ihrer Blindheit nie studiert, doch Rolf hatte ihr alles beigebracht, was er über Pflanzen und ihre Umgebung wusste. Bald kannte sie die Arten fast so gut wie er und konnte die Blätter und Blüten anderen so genau beschreiben, dass man meinte, sie müsste sie schon einmal gesehen haben.
Sie wusste, dass viele in Gefahr waren. Dass es viele Arten nur noch in Rolfs Sammlung gab. Arten, die bereits vor ihrer Geburt bedroht gewesen waren. Manchmal war Rolf ganz ausser Atem nach Hause gestürmt und hatte von irgendeinem neuen Fund geredet, eine Art, welche man beinahe ausgestorben wusste, von der aber noch ein paar Exemplare zu finden seien. Dann packte sie die Schatullen in eine Tasche, stieg ins Auto und sie fuhren los. Manchmal vergingen Stunden, bis sie endlich am Ort ankamen, wo die Pflanzen angeblich zu finden seien. Es war nicht einfach für Louise, eine Art zu finden, die man ihr nur beschreiben konnte. Doch sobald sie ein Exemplar einmal angefasst und gerochen hatte, tastete sie sich selbst durch die Arten und sammelte beflissen die Samen der Pflanzen, die es zu retten galt.
Als Rolf krank wurde, machte sie weiter. Nun waren es meist Studenten oder Forscherinnen, die sie auf ihren Missionen begleiteten. Sie wusste genau, wo welches Erbgut verstaut war. Und sie war nicht die Einzige, die gesammelt und gewartet hatte. Rolf hatte immer nur von dem «richtigen Zeitpunkt» gesprochen, von «eines Tages» und von «wenn die Welt wieder bereit dafür ist». Bis dahin, hatte er immer betont, bestünde ihre Aufgabe lediglich darin, sie alle aufzubewahren, sie zu schützen bis zum Moment, wo es wieder Platz für sie geben würde. Die Pflanzen würden ihren Weg zurück schon finden, wenn erst die Lebensräume dafür wieder geschahen würden. Das Wichtige sei einzig und allein, dass die Gene nicht verloren gehen würden. Erst lange nach Rolfs Tod hatte sie von dem Plan erfahren. Und nun sass sie auf dem Hügel und wartete auf das Zeichen.
Seit Monaten waren im ganzen Land die Bedingungen geschahen worden für diese Nacht. Arme, die jünger waren als die ihren, hatten gegraben und geschnitten, hatten Lichtungen geschahen in Wäldern, die zu dicht waren und Erde hervorgeholt, wo Asphalt zu lange den Boden versiegelt hatte.
Es war das Pestizidabkommen gewesen, das den letzten Schritt eingeläutet hatte. Nach etwa zwei Jahrhunderten stetiger Intensivierung der Landwirtschaft hatten immer mehr Länder begriffen, dass ihre Methoden zu bröckeln begannen. Erst hatte man die schweren Maschinen durch leichtere ersetzt. Bhutan war das erste Land, das ihre ganze Landwirtschaft biologisch gestaltete. Ein paar Jahre später folgten Neuseeland und die Niederlande als erste Länder, die komplett auf regenerative Praktiken setzten. «Der Zeitpunkt ist noch nicht gekommen», hatte Rolf damals gesagt. Sie hatte an seinem Bett gesessen und ihm die Nachricht überbracht. «Solange sie hier noch Gift spritzen, können wir es nicht riskieren», meinte er. Seine Stimme war von der Krankheit angeschlagen, doch sie konnte die Hoffnung noch immer hören, die sich darin versteckte. Er wusste, wie delikat die seltenen Pflänzchen waren und dass sie die kostbaren Samen nicht verschwenden durften.
Erst als die internationale Gemeinschaft beschloss, dass Pestizide in jedem Land verboten werden sollten, schien der Moment gekommen. Rolf war drei Monate zuvor gestorben. Louise fragte sich später immer wieder, ob er vom grossen Plan gewusst hatte. Sie hatte viel gehört über Wüsten, die zu Gärten gemacht worden waren, Schluchten, die nach Jahrzehnten ohne Wasser nun sogar in den regenlosen Monaten wieder Wasser führten. Doch sie hatte sich nie träumen lassen, dass sie zu ihren Lebzeiten noch selbst in die Tat würde umsetzen können, wovon sie seit so langem geträumt hatte. Den Anruf bekam sie keine halbe Stunde nachdem sie den Beschluss über das Pestizidverbot am Radio gehört hatte.
Am anderen Ende war eine ehemalige Studentin, die damals geholfen hatte, die Samenbank aufzubauen und die mittlerweile zwanzig weitere Samenbanken über den ganzen Kontinent hinweg gegründet hatte. Es war kein langes Telefonat. Der Plan war klar. Nun galt es, auf das Zeichen zu warten. Louise lauschte in die Nacht. Ein Uhu war von der Jagd zurückgekehrt und rief in den Wald hinein. Kühle Nachtluft wehte Louise ins Gesicht und brachte ihr den Geruch von frischer Erde. Erwartungsvoll zog sie den Duft in ihre Lungen. Sie war bereit.
Als sie plötzlich den Klang des Hornes vernahm, musste der Mond wohl bereits hoch am Himmel stehen. Louise spürte, wie ihr Herz schlug, als sie mit beiden Händen in ihre Taschen griff. Sie dachte daran, wie Rolfs Finger wohl vor Aufregung gezittert hätten. Wie sein Atem schneller gegangen wäre beim Gedanken daran, dass «eines Tages» nun «jetzt» war und dass «der richtige Zeitpunkt», auf den er sein ganzes Leben hingearbeitet hatte, endlich gekommen war.
Louise stand auf und ging die dreieinhalb Schritte bis an den Anfang des Hangs, zwischen ihren Fingern tausende noch schlafende Leben. Noch ein letztes Mal holte sie tief Luft. Dann öffnete sie ihre Hände und liess die Samen fliegen. Und zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, sie könnte sehen. Sehen, wie die Samen vom Wind davongetragen wurden und in der Dunkelheit verschwanden.






