Was zählt am Ende wirklich? – Einführung in den Konsequentialismus
Wir starten heute direkt mit einem Szenario, also stell dir vor: Du leitest eine Umweltkampagne. Um ein bedrohtes Ökosystem zu retten, brauchst du dringend Spenden. Aber die Wahrheit ist kompliziert und nicht besonders medienwirksam. Also entscheidest du dich, die Lage zu dramatisieren. Du übertreibst die Zahlen. Spielst mit der Angst.
Und es wirkt.
Die Spenden fließen. Das Projekt kann finanziert werden. Der Lebensraum bleibt erhalten.
War das falsch? Oder war es genau richtig?
Kant würde sagen: „Lügen ist immer falsch. Punkt.“ Denn Regeln gelten unabhängig vom Ergebnis. Aber viele würden antworten: „Wenn dadurch Natur geschützt wird, dann war es das wert.“ Und genau da beginnt der Konsequentialismus.
Er sagt: Nicht die Regeln entscheiden, sondern die Folgen.
Nicht, was du tust, sondern was am Ende dabei rauskommt.
Was ist eigentlich „gut“ – und für wen?
Konsequentialismus ist einfach gesagt: Gut ist, was gute Folgen hat. Nicht das Motiv zählt. Nicht die Regel. Sondern: Was am Ende passiert.
Aber was heißt das genau? Was sind „gute Folgen“? Für wen? Und wer entscheidet das?
Folgen aber für wen?
Im Zentrum steht eine einfache Idee: Handlungen sind moralisch richtig, wenn sie Gutes bewirken. Nicht für irgendwem. Sondern für möglichst viele. Wenn also durch dein Handeln mehr Freude, Glück, Gesundheit oder Naturschutz entsteht, dann war es richtig. Wenn es Leid, Schaden oder Zerstörung bringt, dann war es falsch.
Klingt logisch. Aber es wird auch wieder schnell kompliziert:
👉 Zählt das Glück von Menschen mehr als das von Tieren?
👉 Was ist mit zukünftigen Generationen?
👉 Und was, wenn eine Person extrem leidet, damit viele Menschen minimal profitieren?
Und was genau ist „gut“?
„Gute Folgen“ das klingt einfach. Aber was ist gut?
👉 Ist es Lust? Glück? Gerechtigkeit?
👉 Ist es das Überleben von Arten? Das Wohl des Planeten?
👉 Oder einfach das, was wir für gut halten?
Der Konsequentialismus lässt sich hier nicht auf ein einziges Ziel festlegen. Es kommt darauf an, welche Variante des Konsequentialismus du dir anschaust und welche Werte du in die Rechnung einfließen lässt.
Zwei zentrale Leitfragen
Deshalb stellt der Konsequentialismus zwei große Fragen, die alles entscheiden:
- Welche Handlungen sind (wann) genau geboten?
👉 Muss ich immer die Handlung mit den besten Folgen wählen?
👉 Reicht es, wenn die Folgen einfach gut genug sind?
👉 Oder muss ich nur sicherstellen, dass ich keinen großen Schaden zulasse? - Woran messe ich, ob die Folgen gut sind?
👉 Geht es nur um ein Ziel (z. B. Lust)?
👉 Oder um viele Werte wie Glück, Gerechtigkeit, Freiheit, Natur?
Genau an diesem Punkt spalten sich die verschiedenen Strömungen des Konsequentialismus. Denn nicht alle Konsequentialisten wollen alles auf „eine Zahl“ reduzieren.
Und was ist mit Nebenwirkungen?
Das ist gerade im Umweltschutz ein wichtiges Thema und das nennt man Doppelwirkung. Stell dir vor: Du baust einen Windpark und rettest damit das Klima. Aber gleichzeitig zerstörst du damit den Lebensraum seltener Vögel.
Gute Folge + schlechte Folge. Was jetzt?
Das nennt man in der Philosophie das Prinzip der Doppelwirkung.
Es sagt aus: Wenn eine Handlung Gutes bewirkt und der Schaden nur als Nebeneffekt passiert, dann kann die Handlung moralisch okay sein, wenn du den Schaden nicht beabsichtigt hast und das Gute wirklich nur auf diesem Weg zu erreichen ist.
Beispiel aus der Medizin: Palliative Sedierung (Beruhigung durch starke Medikamente, oft bis zum Tiefschlaf, um Schmerzen am Lebensende zu lindern) lindert Leid (nimmt Schmerzen und Angst bei schwerkranken Menschen) aber sie kann auch das Leben des Patienten verkürzen. Das Ziel ist aber nicht der Tod, sondern die Schmerzlinderung. Deshalb gilt es als erlaubt.
Klingt vernünftig aber: Konsequentialisten lehnen das oft ab.
Ihnen reicht schon, dass der Schaden vorhersehbar war; ob du ihn wolltest oder nicht, ist egal. Hier zeigt sich ein Unterschied zu anderen Ethikmodellen: Für Kant und viele Tugendethiker (mehr dazu in noch kommenden Artikeln) zählt die Absicht. Für Konsequentialisten zählt nur das Ergebnis.
Bentham und der klassische Utilitarismus – Hauptsache: mehr Glück
Der klassische Utilitarismus ist die bekannteste Form des Konsequentialismus. Sein bekanntester Vertreter: Jeremy Bentham (1748–1832).
Seine Idee: Richtig ist, was das Glück aller Betroffenen vergrößert oder Leid verringert. Nicht Absichten zählen. Nicht Prinzipien. Nur das Ergebnis. Und das soll nach Bentham messbar sein: Wie viel Lust entsteht? Wie viel Schmerz wird verhindert? Bentham wollte eine Ethik, die sich rechnen lässt, praktisch für die Gesellschaft.
Wer war Jeremy Bentham?
Jeremy Bentham (1748–1832) war der Erste, der den Utilitarismus als systematische Ethik formuliert hat. Er wollte eine Moral, die klar, rational und nützlich ist, keine schwammigen Gebote oder religiösen Dogmen (also festgelegte Glaubenssätze, die man nicht hinterfragt).
Sein Grundsatz war berühmt: „Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Herren gestellt – Schmerz und Freude.“
Das bedeutet: Alles, was wir tun, tun wir letztlich, um Lust zu gewinnen und Leid zu vermeiden.
Das Prinzip: Mehr Glück = mehr richtig
Im Zentrum steht ein einfacher Maßstab: Was bringt am Ende mehr Freude für möglichst viele?
Und zwar:
👉 nicht nur für dich selbst,
👉 sondern für alle Betroffenen.
Nicht das Motiv zählt. Nicht das Mittel. Nur: Wie viel Glück entsteht am Ende? Je mehr Glück desto besser. Je weniger Leid desto moralischer.
Lust und Schmerz – was meint Bentham wirklich?
Noch eine kleine Begriffsdefinition. Im klassischen Utilitarismus dreht sich alles um zwei Begriffe: Lust (pleasure) und Schmerz (pain). Aber bevor du denkst, Bentham meinte damit nur körperliches Vergnügen oder Physische Schmerzen wie Zahnschmerzen, dann warte kurz. Seine Bedeutung war viel weiter gefasst.
👉 Lust bedeutet bei Bentham: alles, was wir als positiv empfinden. Freude, Glück, Entspannung, Zufriedenheit egal ob durch gutes Essen, Freundschaft, Musik, Sport oder das gute Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.
👉Schmerz heißt: alles, was sich schlecht anfühlt. Leiden, Angst, Trauer, Stress, Krankheit oder auch das Unwohlsein, wenn man etwas Wichtiges versäumt.
Der utilitaristische Kalkül
Bentham wollte Moral rechenbar machen. Er glaubte: Man kann Freude und Schmerz messen. Zwar nicht wie mit einem Thermometer aber durch Fragen wie:
👉 Wie stark ist das Vergnügen oder der Schmerz?
👉 Wie lange hält es an?
👉 Wie sicher ist es, dass es eintritt?
👉 Wie viele sind betroffen?
So entsteht eine Art Glücks-Bilanz. Wie bei einem Konto: Am Ende zählt der Saldo (das, was unterm Strich rauskommt).
Ein Beispiel aus dem Umweltschutz:
Du planst ein Bauprojekt. Es rettet 100 bedrohte Tierarten, weil Lebensräume geschützt werden. Aber: 5 Familien müssen dafür ihr Zuhause aufgeben. Sie leiden. Fühlen sich ungerecht behandelt.
Was tun?
Bentham würde sagen: „Rechne es durch.“
Wenn der Nutzen für die Tiere (und vielleicht auch für zukünftige Generationen) größer ist als der Schaden für die 5 Familien, dann ist die Maßnahme richtig. Auch wenn sie wehtut. Klingt hart ist aber konsequent. Denn: Im klassischen Utilitarismus zählt nicht, wer leidet, sondern wie viel Leid und Freunde insgesamt entsteht. Quantität entscheidet.
Wie Sanktionen unseren Lust-Schmerz-Kalkül formen
Aber wie beeinflusst eigentlich die Gesellschaft, was wir als „gut“ oder „schlecht“ empfinden? Bentham sagt: Alles Handeln folgt Lust und Schmerz. Doch diese Lust- und Schmerz-Bilanz lässt sich beeinflussen durch Sanktionen.
Wenn dir eine Handlung eigentlich Freude macht, sagen wir: du fährst gern schnell Auto, dann kann eine Strafe (Geldbuße, Punkte, Führerscheinverlust) diese Freude ganz schön dämpfen. Plötzlich fühlt es sich nicht mehr „gut“ an, sondern riskant, teuer, unangenehm.
Das nennt man Sanktionen der Moral. Es gibt vier Arten:
👉 physische Sanktionen – direkte Schmerzen oder Unannehmlichkeiten
👉 politische Sanktionen – wie Strafen oder Bußgelder
👉 moralische Sanktionen – dein Gewissen, Lob und Tadel
👉 religiöse Sanktionen – Belohnung oder Bestrafung im Jenseits
Diese Sanktionen verändern unseren Lust-Schmerz-Kalkül und lenken so unser Verhalten. Für Bentham ein wichtiges Werkzeug: Wenn wir wollen, dass Menschen sich moralisch verhalten, müssen wir die Konsequenzen ihrer Handlungen gestalten, also die „Lust“ am Falschen senken und die „Freude“ am Richtigen stärken.
John Stuart Mill – mehr als nur rechnen
Jeremy Bentham meinte: Mehr Lust = mehr gut. Ganz gleich, ob die Freude aus einem Gedicht kommt oder aus einem simplen Spiel. Hauptsache, es macht Spaß.
John Stuart Mill (1806–1873) war Philosoph, Ökonom und politischer Denker und einer der einflussreichsten Intellektuellen seiner Zeit. Er wurde als Kind von James Mill streng erzogen und war schon mit 3 Jahren beim Altgriechisch Unterricht. Mill war nicht nur Theoretiker, sondern auch Kämpfer für Gleichberechtigung, Frauenrechte und Meinungsfreiheit. Und vorallem war er Benthams Schüler, aber auch sein größter Kritiker.
Für Mill war nicht nur die Menge der Freude entscheidend, sondern auch deren Qualität. Er sagte sinngemäß: „Es gibt Freuden, die sind einfach würdiger als andere.“ Und sein berühmtester Satz bringt das auf den Punkt: „Lieber ein unzufriedener Mensch als ein zufriedenes Schwein.“
Was meint er damit? Ganz einfach: Nicht jede Freude ist gleich viel Wert. Die Freude am Denken, an Kunst, an Freundschaft zählt für Mill mehr als bloßer Zeitvertreib oder körperliches Vergnügen. Ein Mensch, der leidet, weil er hohe Ansprüche an sich und die Welt hat, lebt in gewisser Weise tiefer als jemand, der einfach nur zufrieden ist, aber nichts hinterfragt.
Mill nennt das die Unterscheidung zwischen höheren und niederen Freuden. Höhere Freuden fördern den Verstand, die Seele, die Selbstachtung. Niedere Freuden befriedigen eher kurzfristige Bedürfnisse.
Und wie entscheidet man, was „höher“ ist? Mills Antwort: Frag Menschen, die beide Arten von Freude kennen und sie werden dir sagen, dass die tieferen Freuden erfüllender sind. Oder anders gesagt: Wer einmal wirklich berührt wurde durch Musik, durch ein gutes Gespräch, durch ein großes Ziel, der wird damit nicht mehr tauschen wollen gegen Fast Food und Netflix-Dauerschleife.
Das ist Mills Kritik an Bentham: Moral kann nicht allein in Zahlen gerechnet werden. Sie braucht ein Verständnis für Tiefe, Bedeutung und Würde.
Was heißt das für den Umweltschutz?
Wenn alle Menschen Utilitaristen wären. Dann würden sie sich bei jeder Entscheidung fragen: „Welche Handlung bringt am meisten Gutes für möglichst viele?“
Nicht: „Was will ich jetzt?“
Sondern: „Was verursacht am wenigsten Schaden und am meisten Nutzen?“
Wenn wir alle so denken würden, wäre Umweltschutz keine Last, sondern logisch:
👉 Müll trennen, weil es allen nutzt.
👉 Weniger Fleisch essen, weil es Tierleid senkt.
👉 Weniger fliegen, weil es CO₂ spart.
Nicht aus schlechtem Gewissen, sondern weil der Nutzen überwiegt. Eine Welt voller Utilitaristen wäre wahrscheinlich: sauberer, leiser, gerechter.
Und auch politisch hat der Utilitarismus viel Potenzial. Denn er sagt: Entscheidend ist der Gesamtnutzen. Und genau hier setzt Politik an.
Ein Beispiel: Viele Menschen haben Lust, Auto zu fahren, zu fliegen, billig Fleisch zu essen. Das ist erstmal menschlich und genau hier setzt der Staat an, um diese Lust neu zu gewichten.
Wie? Durch Sanktionen.
Wenn der CO₂-Ausstoß teurer wird, wenn Fliegen mehr kostet, wenn tierische Produkte mit einer Abgabe belegt sind, dann verschiebt sich der Nutzen-Schmerz-Kalkül:
👉 Die Handlung bringt weniger Lust
👉 und wird damit unattraktiver.
Das sind dann „moralische oder politische Sanktionen“ also Eingriffe, die nicht nur bestrafen, sondern unsere Entscheidungen neu steuern. Du willst trotzdem fliegen? Okay. Aber es kostet dich mehr – finanziell und vielleicht auch moralisch. Und wenn der Gewinn für die Allgemeinheit, etwa durch Klimaschutz, weniger Tierleid oder bessere Luft größer ist als der Verlust für Einzelne, dann ist es utilitaristisch gesehen die richtige Maßnahme.
So entsteht eine neue Art von Steuerung: nicht über Verbote, sondern über Anreize und Abschreckung, über den Saldo von Freude und Leid. Genau das, worum es im Utilitarismus geht.
Wie geht es weiter…
Im nächsten Artikel schauen wir uns die Kritik am Utilitarismus an. Denn ganz ehrlich: Ist es wirklich okay, wenn das Glück von vielen auf dem Leid von wenigen aufgebaut wird? Was ist mit Gerechtigkeit, mit Menschenrechten, mit Dingen, die man vielleicht nicht verrechnen sollte?
Ich lade dich jetzt schon ein: Überleg dir mal was könnte am Utilitarismus problematisch sein? Vielleicht findest du selbst schon Argumente. Vielleicht warst du beim Lesen dieses Artikels sogar innerlich schon im Widerstand.
Dann wird der nächste Artikel sehr spannend für dich sein. Und bis dahin: Pass auf dich auf 💚





