Türchen 11 – Die Kraft des dösenden Fischers

Kennst Du die Anekdote?
Ein Tourist machte eine idyllische Fotographie
Vom dösenden Fischer im Fischerboote;
Darauf erzählte der Fischer seine Biographie:

Ob er denn gar nichts fange?
Wurd dem Touristen Bange.
Doch doch, die Netze füllten sich gut –
Für heute habe der Fischer schon genug.

Welch Wunder, freute sich der Tourist
Mit dem Fischer, der wahrlich ein Glückspilz ist.
Fahren Sie nochmal raus: zwei, drei Mal –
In Ihnen steckt noch so viel Potential!

Und was dann mit allen gefischten Tieren?
Na, die könnten Sie auf dem Markt verkaufen
Und den Gewinn müssten Sie investieren,
Um die Karriereleiter rauf zu laufen.

Ob Pfleger, Tischlerin oder Jurist,
Sind wir in unserem eigenen Leben oft nur Tourist.
Der Fischer aber bleibt Phantasie,
Ist nicht mehr – und nicht weniger – als Utopie.

Was würde wohl der Fischer in Rente tun?
Hätt er fürs Alter doch keine Reserven,
Müsst jeden Tag sein Netz auswerfen,
Und hätt er genug – würd er im Fischerboote ruhn.

Wenn er es wie der Tourist tät –
Und fischte Hundert, Tausend Fische, ja Millionen -,
Wenn er fischte, bis es keine Fische mehr gäb,
Dann bliebe nichts für die Fischer der nächsten Generationen.

Wer immerzu von einem Erfolg zum nächsten hetzt,
Wer träumt: eines Tages habe er es geschafft,
Der verpasst das Leben im Hier und Jetzt,
Dem fehlt zum Glücklichsein einfach die Kraft.

Das Gedicht spielt an auf: Heinrich Böll, Eine Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral (Tag der Arbeit, 1. Mai 1963)

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Simon Raschke

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