Wer bin ich, wenn niemand hinschaut? Korsgaard Selbstbindung und Umweltschutz

Wenn Regeln nicht mehr reichen

Kants Ethik ist ordentlich.
Sie gibt uns Regeln, Pflichten, Maximen.
Sie fragt nicht nach Gefühlen, sondern: „Kannst du wollen, dass alle so handeln wie du?“

Wenn ja: moralisch okay. Wenn nein: verboten. Punkt.
Aber was, wenn diese Ordnung plötzlich nicht mehr funktioniert? Was, wenn niemand zusieht? Wenn keine Regel dich zwingt, aber du trotzdem entscheiden musst, was richtig ist?

Stell dir vor, du bist alleine auf einer Wiese und hast gerade ein Picknick gemacht. Niemand ist da. Kein Schild, keine Kamera, kein anderer Mensch. Deine leere Plastikverpackung liegt auf dem Boden. Du könntest sie einfach liegen lassen. Es würde niemand merken. Kein Stress, kein Ärger, kein Verbot. Aber du hebst sie trotzdem auf und nimmst sie mit.

Warum?
Kant würde sagen: „Weil du nicht willst, dass alle ihren Müll auf der Wiese lassen.“

Aber mal ehrlich: Du denkst doch in dem Moment nicht über Maximen oder Regeln nach. Du willst einfach kein Mensch sein, der die Natur verschmutzt. Du willst jemand sein, der achtgibt und Verantwortung übernimmt.

Genau hier beginnt Korsgaards Ethik.
Sie fragt: „Warum handelst du richtig, wenn du es gar nicht musst?“

Und ihre Antwort ist nicht Pflicht, sondern Identität. Korsgaard liest Kant dabei konstruktivistisch. Das heißt: Sie glaubt, dass Moral nicht irgendwo in der Welt „existiert“, sondern dass sie entsteht durch uns, durch ein Verfahren, durch Selbstprüfung. Ein kleiner Vorgeschmack auf den nächsten Artikel: Dann gehen wir richtig rein in den Konstruktivismus. Aber vielleicht spürst du schon jetzt, was damit gemeint ist.

Selbstbindung – Moral beginnt bei dir

Korsgaards Idee ist so einfach wie stark: „Wir handeln moralisch, weil wir uns selbst als moralische Wesen verstehen.“ Sie nennt das Selbstbindung. Das heißt: Ich halte mich an moralische Prinzipien, nicht weil jemand es von mir verlangt, sondern weil sie zu dem Menschen gehören, der ich sein will. Es geht nicht um Strafe, Angst oder Regeln. Es geht um etwas Tieferes: Wer will ich sein?

Wenn ich sage:
„Ich bin jemand, der respektvoll mit Tieren umgeht.“
dann kann ich Tiere nicht quälen, selbst wenn es niemand sieht.

Wenn ich sage:
„Ich bin jemand, der Verantwortung für die Umwelt übernimmt.“
dann fliege ich nicht für ein Wochenende nach Mallorca, nur weil es billig ist.

Nicht, weil es verboten ist, sondern weil ich weiß:
„Das passt nicht zu dem Menschen, der ich sein will.“

Und jetzt wichtig: Korsgaard erfindet keine ganz neue Moraltheorie. Sie bleibt Kantianerin, sie teilt mit Kant die Idee, dass Moral aus der Vernunft (also unserer Fähigkeit zum Nachdenken, Prüfen und Verstehen) kommt und dass moralische Pflichten nicht willkürlich sind. Aber sie liest Kant konstruktivistisch. Das heißt: Moralische Verpflichtungen entstehen nicht, weil sie „da draußen“ existieren, sondern weil wir sie uns (vernünftig) selbst auferlegen. Statt einer allgemeinen Regel („Was wäre, wenn alle das täten?“)

fragt sie: „Wirst du dir selbst noch in die Augen schauen können, wenn du gegen deine Überzeugung handelst?“

Das ist kein Bruch mit Kant, sondern eine persönlichere und alltagsnähere Deutung seiner Pflichtethik. Korsgaard holt die Moral nach innen. Sie sagt: Wenn du dich selbst als jemand siehst, der Verantwortung trägt, dann musst du gar nicht ständig moralisch gezwungen werden, das Richtige zu tun. Du wirst so handeln, weil du sonst gegen dich selbst lebst.

Unsere moralische Identität hängt aber nicht nur davon ab, wie wir uns allgemein sehen, sondern auch davon, welche Rollen wir im Leben einnehmen. Korsgaard sagt: Wenn du Vater bist, Freundin, Nachbarin oder Kollege dann entsteht daraus eine konkrete Vorstellung davon, wer du bist und was du tun solltest. Und genau aus diesen Rollen erwachsen Verpflichtungen, die nicht beliebig sind. Nicht, weil sie aufgeschrieben stehen, sondern weil du sie brauchst, um du selbst zu sein.

Sie schreibt: „Es sind die Vorstellungen von uns selbst, die uns am meisten bedeuten, aus denen unsere bedingungslosen Verpflichtungen entstehen. Denn sie zu verletzen bedeutet, seine Integrität und damit seine Identität zu verlieren.” (vgl. übersetzt ins deutsche Korsgaard, The Sources of Normativity, S. 102)

Das vertieft das Konzept der Selbstbindung und macht es greifbarer. Denn fast jeder kennt den inneren Satz: „Das macht man nicht als Mutter/ als Freund/ als jemand, der Verantwortung trägt.“

Warum das zählt – besonders im Umweltschutz

Korsgaards Ethik ist nicht nur ein philosophisches Konzept sie trifft mitten ins Herz unserer Zeit. Gerade wenn es um Klimaschutz, Artensterben oder Ressourcenverbrauch geht, stehen wir oft vor Fragen, die sich nicht mit Regeln allein beantworten lassen. Denn ganz ehrlich: Es gibt keine Polizei, die kontrolliert, ob du Fleisch isst, ob du Müll trennst oder ob du wirklich weniger fliegst. Die meisten Umweltfragen entscheiden sich nicht durch Zwang, sondern durch die eigene Haltung.

Wenn du dich selbst als jemanden siehst, der Teil der Lösung sein will, dann brauchst du keine Vorschrift um nachhaltig zu leben. Dann tust du es, weil du es mit dir selbst nicht anders vereinbaren kannst.

Beispiel: Du könntest deinen alten Laptop einfach in den Wald werfen. Niemand verbietet es dir. Aber du bringst ihn lieber zum Recyclinghof, weil du nicht der Mensch sein willst, der Elektroschrott in die Natur wirft. Du willst jemand sein, der Verantwortung übernimmt, auch wenn es kein anderer sieht.

Korsgaard zeigt: Moral beginnt nicht bei Regeln, sondern bei dir. Bei deinem Selbstbild, deinem Anspruch an dich selbst. Und genau das brauchen wir vielleicht im Umweltschutz: Keine Moralkeule. Sondern Menschen, die aus Überzeugung handeln, weil sie so jemand sein wollen. Und auch so bleiben wollen.

Wie geht’s weiter?

Wenn Kant die Regel und Korsgaard das Ich in den Mittelpunkt stellt was passiert, wenn wir den Blick auf das Ergebnis richten? Im nächsten Artikel steigen wir ein in eine ganz andere philosophische Welt: den Konsequentialismus. Da gilt nicht: „Was ist richtig?“ Sondern: „Was bringt am meisten Gutes?“

Wir klären:
👉 Darf ich lügen, wenn es einen Menschen rettet?
👉 Zählt jede Freude gleich oder ist es komplizierter?
👉 Und wie weit darf ich gehen, um ein gutes Ergebnis zu erzielen?

Wir sprechen über Utilitarismus, Bentham, Mill und warum das alles nicht nur was mit Philosophie, sondern vor allem auch mit Klimapolitik zu tun hat.

Schreib mir gern wieder in die Kommentare, was du von Korsgaard Ethik hältst und/oder worüber du selbst mal nachgedacht hast während des Lesens. Ich freu mich über jeden Kommentar und jede Frage. Passt auf euch auf 🙂

Titelbild von Dinh Khoi Nguyen auf Pixabay

Avatar-Foto

Justin Kowalski

Hi, ich bin Justin. Ich studiere Politikwissenschaft in Hannover und schreibe hier über Themen, die mich bewegen, von Philosophie über Gesellschaft bis zur Nachhaltigkeit. Ich freue mich, wenn ihr meine Artikel lest und mit philosophiert :) Neue Artikel erscheinen immer Dienstags um 10 Uhr ;)

Artikel: 9