Wenn Moral auf Realität trifft
Im letzten Artikel ging’s um die Theorie: Kant, Pflichten, Regeln und der Gedanke, dass eine Handlung nur dann moralisch ist, wenn sie zur Regel für alle taugt. Aber was passiert, wenn diese Regel in der echten Welt auf die Probe gestellt wird?
Ein gutes Beispiel ist das, was man die „Tragik der Allmende“ nennt. Das klingt erstmal wie ein Buchtitel, ist aber in Wahrheit ein steinaltes Umweltproblem und heute aktueller denn je. Allmende bedeutet: etwas, das allen gehört, zum Beispiel eine gemeinsame Weide, das Meer, ein Wald oder unser Planet. Die Tragik entsteht, wenn alle sich nehmen, was sie wollen, weil sie denken: „Ich allein mach doch keinen Unterschied.“ Aber genau dieses Denken führt vielleicht dazu, dass am Ende alles den Bach runtergeht.
Und genau da trifft Kants Moral auf harte Realität: Was passiert, wenn jeder nur an sich denkt und sich dabei auf gute Gründe beruft? Was passiert, wenn niemand mehr prüft? Heute schauen wir uns das mit Beispielen aus unserem Alltag an.
Die Arten von Pflichten – nicht alles wiegt gleich
Im vorherigen Artikel haben wir ebenfalls gelernt: Kant entwickelt eine Pflichtethik. Das heißt: moralisches Handeln folgt klaren Regeln und diese Regeln nennt man bei ihm Pflichten.
Aber bevor wir weitermachen, kurz zur Einordnung: Manche fragen sich: Ist eine Maxime das Gleiche wie eine Pflicht? Nicht ganz. Die Maxime ist erstmal nur dein persönlicher Leitsatz. Also das was du tun willst.
Zum Beispiel: „Ich lüge, wenn es mir nützt.“
Diese Maxime schickst du dann durch Kants kategorischen Imperativ. Und erst, wenn sie diesen Test besteht, wird daraus eine Pflicht, also eine Regel, die du immer befolgen solltest. Jetzt sagt Kant aber: Nicht jede Pflicht ist gleich streng. Manche sind absolut – keine Ausnahmen erlaubt. Andere lassen mehr Spielraum.
Enge negative Pflichten
Das sind Dinge, die du auf keinen Fall tun darfst. Zum Beispiel: lügen, stehlen, töten.Diese Pflichten gelten immer und für alle. Wer sie verletzt, handelt klar unmoralisch.
Beispiel: Du lügst, um dir einen Vorteil zu verschaffen. Das kann keine Regel für alle sein also ist es verboten. Jetzt stell dir das im Umweltschutz vor: „Ich darf Müll im Wald liegen lassen, weil es für mich bequemer ist.“
Wenn das jeder macht? Dann ist der Wald (Allmendegut) kein Ort mehr für Tiere, Erholung oder Natur, sondern eine Müllkippe. Diese Maxime lässt sich nicht verallgemeinern; sie zerstört was sie braucht. Deshalb ist das ein klarer Verstoß gegen eine enge Pflicht: Die Pflicht, anderen keinen Schaden zuzufügen.
Weite negative Pflicht
Ich sollte etwas unterlassen (negativ) aber es ist nicht immer strikt geboten (weit).
Beispiel: „Ich sollte möglichst wenig neue Kleidung kaufen, um Ressourcen zu schonen.“
Warum? Weil Fast Fashion enorme Umweltschäden und soziale Ausbeutung verursacht. Die Maxime „Ich kaufe einfach, was ich will“ lässt sich nicht verallgemeinern. Sie würde auf Dauer Ressourcen und Menschen verschleißen. Aber: Nicht jeder Kauf ist gleich unmoralisch. Vielleicht kaufst du bewusst, langlebig, fair produzierte Sachen die noch zusätzlich aus recycelten Material hergestellt werden.
→ Deshalb ist das eine weite negative Pflicht: Man sollte möglichst verzichten, aber man muss nicht immer und überall vollständig enthaltsam leben.
In diesem Fall geht es um Achtsamkeit, nicht um Verbote.
Weite positive Pflichten
Das sind Dinge, die du tun solltest, wenn du kannst, aber sie lassen mehr Spielraum.
Beispiel: Anderen helfen, die in Not sind. Wenn du es kannst, solltest du es tun. Aber nicht in jedem Moment, unter allen Umständen.
Und im Umweltschutz? „Ich sollte mich engagieren, wenn ich die Möglichkeit dazu habe“
Das ist keine Pflicht wie „Du darfst nicht lügen“, aber es ist moralisch gut und wünschenswert. Wer es nie tut, zeigt wenig Verantwortung aber man muss es auch nicht machen.
Enge positive Pflicht
Das ist eine Pflicht, bei der man aktiv handeln muss (positiv) und keine Ausnahmen erlaubt sind (eng).
Beispiel: „Ich muss ein verletztes Wildtier, das ich finde, sofort melden oder Hilfe holen.“
Warum? Weil hier ein Lebewesen in akuter Not ist und du Vorort bist. Du kannst helfen, also musst du helfen. Einfach weitergehen? Keine moralische Option. Nicht aus Bequemlichkeit. Nicht aus Zeitmangel. Nicht aus Desinteresse. Leben zu schützen, wenn es in deiner Macht steht, das ist eine Pflicht ohne Ausrede. Deshalb ist das ein klassisches Beispiel für eine enge positive Pflicht: Du musst aktiv handeln und zwar sofort.
Was wäre, wenn wir alle wie Kant handeln würden?
Stell dir mal vor, wir würden den kategorischen Imperativ wirklich ernst nehmen. Nicht nur als Theorie im Kopf, sondern als Regel für unser Leben. Stell dir vor, alle Menschen würden so handeln, dass ihre Maxime als Regel für alle gelten kann. Was würde das für unseren Planeten bedeuten?
Die Antwort: Es wäre ein riesiger Schritt in Richtung Nachhaltigkeit. Weil wir dann mit Dingen, die uns alle etwas angehen, ganz anders umgehen würden. Mit Wäldern, Meeren, der Luft, dem Klima, mit dem was wir Allmende-Güter nennen. Wenn jeder denkt: „Ich allein bin weder das Problem noch die Lösung“, dann tun plötzlich Millionen das Gleiche und das System kippt.
Kant dreht diese Logik um: „Handle so, dass dein Verhalten auch für alle gelten könnte.“ Und genau das macht aus Bequemlichkeit Verantwortung.
Wer nach Kant lebt,
• wirft keinen Müll in die Natur,
• verschwendet nicht unnötig Ressourcen,
• denkt vor dem Handeln: Was wäre, wenn das alle tun?
Daraus entstehen klare Pflichten zum Beispiel:
• Ich schütze Lebensräume, weil ihre Zerstörung für alle Folgen hat
• Ich nutze Ressourcen so, dass andere sie auch noch nutzen können
• Ich verlasse keinen Ort schlechter, als ich ihn vorgefunden habe
Das ist keine Romantik; das ist nach Kant radikal logisch gedacht.
Wenn wir wirklich danach handeln würden, gäbe es keine Plastikinseln im Meer und auch keine kaputten übersäuerten Böden; keine „Tragik der Allmende“ in diesem Ausmaß.
Kants Ethik ist unbequem. Aber wenn wir sie ernst nehmen, könnte sie genau das sein, was wir brauchen: Ein klarer moralischer Kompass.
Wie geht es weiter…
Wir haben gesehen, wo Kants Ethik überzeugt und wo sie stolpert. Pflichten, Maximen, kategorischer Imperativ: All das bringt Ordnung ins moralische Denken, aber wir haben auch gemerkt, wie starr und blind diese Ordnung manchmal für uns sein kann.
Im nächsten Artikel rückt eine Frage in den Mittelpunkt, die noch näher an unserem Alltag liegt: Was hält mich eigentlich davon ab, falsch zu handeln, wenn niemand hinschaut und ich jede Ausrede parat hätte? Geht es dann wirklich nur um Regeln oder um etwas Tieferes?
Hier setzt die Philosophin Christine Korsgaard an. Sie knüpft an Kant an, verschiebt aber den Fokus: weg von der abstrakten Pflicht, hin zu der Frage: Wer will ich sein und wie bleibe ich mir selbst treu?
Ich freue mich, wenn wir uns beim nächsten Artikel wieder lesen und bis dahin: Fühl dich gedrückt 🙂
Titelbild von Arek Socha auf Pixabay






